Stilfser Joch – Mamahonk auf Radwegen
„Die Berge, die es zu versetzen gilt, sind in unserem Bewusstsein.“
Reinhold Messner
Meine zweite Elternzeit wollte ich nicht damit verbringen, mich mit anderen Mamis über den Windelinhalt von Fünkchen auszutauschen. Jedenfalls nicht ausschließlich. Ich hatte nichts gegen Windelinhalt. Im Gegenteil. Ich war zutiefst beeindruckt, mit welcher Begeisterung Mamas und Papas über die Ausscheidungen ihres Babys philosophieren können. Auch Windelinhalt selbst konnte beeindruckend sein. Was sich nicht alles darin fand? In Windeln. Grüner Schaum, Legosteine, Geld – es gab eine breite Variation von Babykacka – in Abhängigkeit von Anzahl der Geschwister.
Doch als ich meinen 40. Geburtstag mit einem alkoholfreien Radler und einem Kinderriegel zelebrierte, drang der unangenehme Gedanke in mein Bewusstsein, dass ich den Zenit meines Lebens wahrscheinlich schon überschritten hatte. Dieser Gedanke, dem Tod näher zu sein als der Geburt, löste eine Art Brennglaseffekt bei mir aus. Ich nahm meine Ziele unter die Lupe, bündelte die Lichtstrahlen und löste ein Feuerwerk aus. Oder so ähnlich.
Naja, eigentlich warf ich einen kritischen Blick auf meine Löffelliste:
- Weltherrschaft an mich reißen
- Unverschämt reich sein
Geschwisterkind für KnöpfchenErledigtJob wechselnErledigt
5. Zensiert
6. Zensiert
7. Zensiert
8. Ursprungsfigur zurück
9. Stilfser Joch hochradeln
10. Ätsch, wird auch nicht verraten
11. Buch über Ziege Mette und ihre Schwestern schreiben
Aha. Ich wollte also meinen Pre-Baby-Body zurück. Gut zu wissen. Das lag nicht daran, dass mein After-Baby-Body mir nicht gefiel. Um Gottes Willen. Nein. Mich selbst unästhetisch zu finden, traute ich mich nicht. Da mobbte mich mein Über-Ich sofort. In solchen Fragen war es gnadenlos. Von wegen, wie oberflächlich ich doch sei? Wo denn meine Werte geblieben seien? Wie ich Optik über die wertvollen Spuren neuen Lebens stellen könne?
Nein, der Grund für die Sehnsucht nach meinem schlankeren Ich, ist die Tatsache, dass mir gegenwärtig genau zwei Hosen passen. Zwei! Nämlich meine Schwangerschaftshosen. Alle anderen Hosen fassen max. 75 Kilogramm Mensch und nicht 85 Kilogramm. Bisher hatte ich das Hosendefizit in meinem Kleiderschrank gut kaschieren können. Ich trug Kleider. Doch als ich meinen Rückblick für August schrieb und dabei die ersten Lebkuchen aus dem Discounter degustierte, stellte ich überrascht fest, dass der Herbst an die Türe klopft.
Eine Tatsache, die mich jedes Jahr auf’s Neue überrascht. Für mich ist August = Hochsommer. Dementsprechend haben mindestens zwei Monate Spätsommer zu folgen. Dann konnten wir langsam mit dem Herbst beginnen. Dann konnte es kalt werden. Dann konnte ich auf Hosen umswitchen. Alles andere war Betrug. Doch als es am 29.08.2022 morgens nur 11 Grad waren, begriff auch ich, dass keine Zeit mehr war, um zwei Kleidergrößen wegzuhungern.
Trotzdem. Joggen war nicht drin. Mein Beckenboden verzieh mir weiterhin keinen einzigen Meter meiner Lieblingssportart. Vor dem Abstillen war nicht mit dem Beckenboden zu rechnen. Erfahrungsgemäß löste der berufliche Wiedereinstieg die Stillerei ab. Ein Zeitpunkt also, an dem das Pensum für MeTime quasi auf Null stand. Nix mit Joggen. Und Diät? Sorry, da war ich ganz klar: Ein Leben ohne Kinderriegel war möglich, aber nicht nötig.
Auf jeden Fall passte mein Wunsch nach Verschlankung recht hervorragend zu meinem Verständnis der Elternzeit. Ich verglich meine Elternzeit mit einem bezahlten Job. Mein Auftraggeber: Die Gesellschaft. Mein Auftrag: Für das Wohlergehen von genau zwei Zielgruppen Sorge tragen:
a) den Kindern
b) mich selbst.
Dazu zählte auch, dass ich meinen Körper auf Vorderfrau brachte. Doch mein Über-Ich blieb hartnäckig. Es ließ sich weder von ästhetischen Argumenten noch von überflüssigen Kleidergrößen überzeugen. Im Brennglasmodus befindlich sah ich mich gezwungen, gleich zwei Ziele meiner Löffelliste zu bündeln: Ursprungsfigur und Stilfser Joch. Vielleicht überzeugt das?
Wie jetzt? Stilfser Joch? Was ist das Stilfser Joch? Die Kurzversion: Es ist die Königin der Passstraßen. Beliebt bei Auto-, Motorrad- und Radfahrer:innen schlängelt sie sich in 48 Kehren von Prad auf knapp 2800 Meter Höhe. Sie verbindet Italien mit der Schweiz. Oder die Schweiz mit Italien. Sucht euch etwas aus.
Siehe da. Mein Über-Ich zeigte plötzlich Interesse.
Als ich ein gutes Jahrzehnt auf diesem Planeten weilte, bezwangen mein Vater und mein Bruder das Stilfser Joch per Rad. Ihre Berichte beeindruckten mich derart, dass ich meinem kindlichen Ego schwor: „Ich komme wieder! Ich will auch!“. Mit 30 Jahren war ich wieder da. Im Vinschgau. Und gleichermaßen überrascht von der Tatsache, am Stilfser Joch zu sein wie von meinem Wunsch, ihn zu beradeln zu wollen. Mein untrainierter Körper schaffte es immerhin bis Stilfs. Weiter nicht. Ergo – ein Spitzenziel für eine 40-Jährige. Fand auch das Über – Ich.
Doch wie trainierst du für 3000 Höhenmeter, wenn du mit einem Säugling in einer Stadt lebst, deren ‚Matterhorn‘ es gerade mal auf 300 Höhenmeter bringt? Wenn jetzt alle rufen: „Unmöglich, lass es! Das schaffst du doch eh nicht!“ Oder: „Cool, jetzt lese ich den Blog regelmäßig. Fetzt bestimmt, dir beim Scheitern zuzugucken!“,
LASST ES!!! Mein Es kann mich wesentlich galanter demotivieren als ihr.
Mein Es hatte schon bei meinem Kinderwunsch große Ausdauer bewiesen. Ausdauer bewies Es auch in Sachen Sabotage. Selbstsabotage. Mit Leichtigkeit identifizierte es sämtliche Gründe, weswegen ich mein Ziel nicht erreichte würde:
Es: Schdilfsr Joch. Soso. Was isch des noh mol wiedr für oi schbinnerde Idee vo dir?
Ich: Na, hör mal!
Es: Im Windr willschd bruflich wiedereinschdeiga. Wie biddeschee willsch mid zwoi Kindern regelmäßich 1-2 die Woche für oi Raddour in den Alba drainiera? In den Alba? Dai Widze wara au schonmol besser. Du wirschd froh sai, wenn du am End vom Dages Zeid für die Körberbfleg haschd. Außerdem Alba!! Gehd’s noch. Wo willsch dahana noh Alba hernehma. Du bisch umgeba vo Hügeln. Hügeln! Und des isch scho gbrahld.
Ich: Öhm…..
Während ich darüber sinnierte, seit wann mein Es den schwäbischen Dialekt beherrschte und vor allem wieso, lief Es zur Hochform auf.
Es: Mid Butzele ond Butzele drainiera. Haschd Du Döne! Genau. Am beschten legsch no a Sagg Zemend ond 10 Waggerschdeine in den Radanhängr.
Ich schluckte: Wenn Du das sagst, klingt das irgendwie so…naja… komisch. Stilfser Joch klingt doch eigentlich nett.
Es: Nedd? Nedd sagschd du? Mal seha, ob dai Mo des au nedd finded, wenn er erfährd, dess die Muadr sainr beida Kindr oi unfallschdadischdisch brühmde Schdros mid däm Rad bfahra will?
Ich: Aber die Gesundheit… bäumte ich mich mit letzter Kraft auf. Gesundheit geht immer.
Es: Des isch gnauso xond wie Kakaobohna Gmias sind ond beim Abnehma helfa. Xond. Xond. Nach dainr gischdiga Xondheid sollde man mol gugga.
🤨 Alle, die mein Es genauso schlecht verstehen, wie ich klicken bitte hier.😀
Es: Stilfser Joch. Soso. Was ist denn das wieder für
eine bescheuerte Idee von dir?
Ich: Na, hör mal!
Es: Im Winter willst du beruflich wiedereinsteigen. Wie,
bitteschön, willst du mit zwei Kindern regelmäßig 1-2 die Woche für eine
Radtour in den Alpen trainieren? In den Alpen? Deine Witze waren auch schonmal
besser. Du wirst froh sein, wenn Du am Ende des Tages Zeit für die Körperpflege
hast. Außerdem Alpen!!! Geht’s noch. Wo willst Du hier denn Alpen hernehmen. Du
bist umgeben von Hügeln. Hügeln! Und das ist schon geprahlt.
Ich: Öhm…..
Während ich darüber sinnierte, seit wann mein Es den
schwäbischen Dialekt beherrschte und vor allem wieso, lief Es zur Hochform auf.
Es: Mit Baby und Kind trainieren. Hast du Töne!
Genau. Am besten legst du noch einen Sack Zement und 10 Wackersteine in den
Radanhänger.
Ich schluckte: Wenn Du das sagst, klingt das
irgendwie so…naja… komisch. Stilfser Joch klingt doch eigentlich nett.
Es: Nett? Nett sagst Du? Mal sehen, ob Dein Mann das
auch nett findet, wenn er erfährt, dass die Mutter seiner beiden Kinder eine
unfallstatistisch berühmte Straße mit dem Rad befahren will?
Ich: Aber die Gesundheit… bäumte ich mich mit letzter
Kraft auf. Gesundheit geht immer.
Es: Das ist genauso gesund wie Kakaobohnen Gemüse
sind und beim Abnehmen helfen. Gesund. Gesund. Nach deiner geistigen Gesundheit
muss geguckt werden.
Ich schwieg kleinlaut.
Ausgerechnet mein Es, dass ausdauernder und erbitternder am Kinderwunsch festgehalten hatte als mein Ich und mein Über-Ich, fiel mir nun recht effektiv in den Rücken. Ich hegte jedoch den Verdacht, dass Es einfach lieber auf einer Couch als auf einem Fahrrad saß.
Allerdings….
Ich war im Brennglasmodus.
Ich straffte meine Schulter und antwortete: Danke Dir für die wertvollen logistischen Hinweise. Ich kümmere mich darum.
Und schwang mich auf’s Rad.

Ihr Lieben, damit war es ausgemacht. Ich habe eine Wette mit meinem inneren Schweinhund laufen. Ich fahre das Stilfser Joch hoch. Per Rad. Was meint ihr, wer gewinnt? Behält mein Es Recht? Und ich scheitere mit meinem sportlichen Ziel an dem Baby, dem Mann, den fehlenden Bergen in Jena und/oder dem beruflichen Einstieg?
Gerne schrieb ich strotzend voller Selbstvertrauen: Ohne Zweifel, ich schaffe das.
Doch ehrlich gesagt, geht mir mein Pops mächtig auf Grundeis. So richtig. Dooferweise habe ich per Insta schon mein Ziel in die Welt gebrüllt. Voll die Anfängerin. Jetzt kann ich nicht klammheimlich trainieren und wenn die Motivation flöten geht, hat es einfach keiner mitbekommen. Nun ja. Über Unterstützung freue ich mich dennoch! Ich meine damit, ein „Sport frei“ hier und ein “Weiter so!” da motiviert mich bestimmt. Gerne könnt ihr auch ganz gehässig fragen: “Und, schon aufgegeben? War ja klar.“

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3 Antworten auf “Stilfser Joch – Mamahonk auf Radwegen”