Die unendliche Zweigleisigkeit des Mamaseins

Sitzt ihr auch regelmäßig am Frühstückstisch, habt seit gefühlt einer Stunde aufgegessen und wartet nur darauf, dass die zweite Honigbrothälfte endlich von den euch gegenübersitzenden Milchzähnen zerkaut wird? Doch sobald ihr es auch nur wagt, euch einen µ (sprich: Mü) vom Essenstisch zu entfernen, springen genau diese Milchzähne auf, um wahlweise mit euch zu tanzen oder zu hüpfen. Nach spätestens weiteren gefühlten zehn Minuten hacken sie – Überraschung – vor Hunger knurrend ihre Zähne in den Boden? Steht schon seit Wochen auf Eurer Wellness-to-do-Liste ein ausgiebiges Entspannungsbad? Hat es sich da heimisch eingerichtet, weil ihr nach dem Zubettbringen des Kindes regelmäßig selbst gleich liegen bleibt? Verschiebt ihr das Freiluft-Workout seit x Monaten, weil es a) zu aufwändig ist, das Kind samt Zubehör in den Laufwagen zu packen, b) der Laufwagen geklaut wurde oder c) dem Kind just im Moment der Übergabe an den Vater einfällt, dass es doch viel lieber bei euch bleiben möchte? Liebe von Kleinkindern-Betroffene, die senile To-Do-Liste hat ausgedient. Der Onlinekalender hat vorübergehend Urlaub. Die unendliche Zweigleisigkeit des Seins hat Einzug gehalten. Nehmt es an, eure Kinder sind hervorragende Nachhilfelehrer*innen in Zeitmanagement.

Nach meinem beruflichen Wiedereinstieg stolperte ich von Herzkasper zu Herzkasper. Unmengen an Cappuccino und Kinderriegel waren meine Defibrillatoren und hielten mich am Laufen. Ich hechelte 24/7 dem Ziel hinterher, sämtliche Todos effizient nacheinander abzuarbeiten – Morgenroutine, Kita, Arbeit, Fitnessstudio, Kita, Einkaufen, Spielplatz, Abendroutine, soziale Kontakte per WhatsApp, Telefon, Mail pflegen – um abends schließlich die Ziellinie in Form einer bequemen Couch mit Buch in der Hand zu erreichen. Das hat sich geändert. Drei Dinge, die mehr Ruhe in meinen Alltag mit Kind brachten: Entspannungsmusik, das Kinderrad und ein mobiler Ökomülleimer.

Mein Glück ist es, mit einer Entspannungsterroristin als Tochter gesegnet zu sein. Sie hat keinen Rhythmus, sondern tibetanische Klänge im Blut. Es ist ihr nicht anzusehen, doch kaum hört sie Panflöte, bringt sie ihr irdisches Ich in die Horizontale und schließt die Augen. Das spielt meinem eigenen Verlangen nach Erholung in die Hände. Dieser Erkenntnis gingen allerdings zahlreiche gescheiterter Versuche, ein schaumiges Melissenbad zu nehmen, voraus. Es war ein langer Weg.  

In der Kur musste mein Weltbild ein Erdbeben der Stärke 9,8 überstehen, als ich dazu aufgefordert wurde, mit 1-2 Entspannungsbäder pro Woche dem mentalen Overload entgegenzuwirken. Bäder nur zur Entspannung? In meiner Welt gab es Bäder ausschließlich als Erkältungskiller oder zur sportlichen Erquickung in Flüssen, Seen und Meer. Da musste das Nasensekret schon in Strömen fließen, ehe ich den Wasserhahn aufdrehte. Während der Mutter-Kind-Kur wurde ich dann zwangsentspannt. So erfolgreich, dass ich diese Art der Relaxation in meine wöchentliche To-Do-Liste aufnahm. Allerdings verharrte diese nach Hause zurückgekehrt unbeachtet dort. War Knöpfchen im Bett, kam ich nicht mehr hinaus aus selbigem.

Eines Tages trickste ich schließlich mein neuronales Netz aus. Es galt Knöpfchen die Haare zu waschen. Sie hatte keinen Bock, und ich hatte kein Bock auf ein bockloses Kind. „Verbinde das Nervige mit dem Angenehmen!“, tönte da aus dem mentalen Off die Stimme meiner Mutter. Wie kann das Bewässern von dünnem Kleinkindhaar, dessen Trägerin wasserscheuer als eine Katze ist, angenehm werden? Danke Mutter, genauso gut könnte ich versuchen, den Mount Everest nackig und ohne Sauerstoffflasche zu besteigen. Spontan beschloss ich, heißes Wasser in die Badewanne mit wohlriechendem Schaum einzulassen, das Licht zu dimmen, Wasserrauschen anzustellen, erst das Kind zu reinigen und mich anschließend mit einem Entspannungsbad zu belohnen. Mein Plan ging James Bond-mäßig auf. Knöpfchen wollte statt ins Bett, in der Badewanne bleiben.

Das Entspannungsbad mit allem Schi Schi wurde damit zur gemeinsamen Routine. Die Verquickung von Wellness und Kinderbetreuung beruhigten auch mein ökologisches Gewissen. Das war nämlich kurz davor, sich den virtuellen Friday for Future Demos im Netz anzuschließen. Besänftigt wurde es zudem, weil Papa das Wasser recyclete und nach uns baden ging. Er war zwar nicht glücklich darüber, stand aber darüber und reparierte nebenbei den Wasserhahn. Zumindest versuchte er es. Seitdem funktioniert die Brause nicht mehr.

Etwas herausfordernder gestaltete sich die gemeinsame Essensaufnahme. Hier stand ich mir mit zu vielen pädagogischen Ansprüchen im Weg: Es sollte a) gemeinsam eingenommen werden, b) smartphone- und tabletfreie Zone sein und c) zumindest, wenn die Ingredienzien aus Brot und Honig bestanden, selbstständig zubereitet werden. Insbesondere zu Frühstückszeiten gab es regelmäßig ein Massaker. In meinem Kopf. Während ich mir vorstellte, wie ich die triefenden Honigbrote auf dem Lieblingskleid meiner Tochter verschmierte, aß diese seelenruhig selbige und tropfte auf ebendieses. Das weckte den Wunsch in mir, den Inhalt des gesamten Honigglas‘ auf ihren Haaren zu verteilen und anschließend GANZ ALLEINE in die Badewanne zu gehen.

Schließlich war es mir zu schade um den Honig. Der war direkt vom Imker. Lieber opferte ich den Anspruch, mein Kind zu frühzeitiger Selbstständigkeit zu erziehen und bekämpfte werktags die ausufernde Ausdehneritis mit bereits geschmierten Honigbroten. Leider verfehlte das den gewünschten Effekt. Knöpfchen betrauerte den Verlust der Selbstständigkeit so ausgiebig, dass der Zeitgewinn gleich Null war.

Also vollzog ich die Opferung der gemeinschaftlichen Nahrungsaufnahme. Mit der Konsequenz, dass mein Kind sobald ich mich vom Tisch erhob, hinter mir her tänzelte und wenig später Bauchkrämpfe erlitt – jedenfalls dem Schimpfpegel nach zu urteilen – und sich „Hunger“ schreiend am Boden wälzte. Die digital free zone unseres Essenstischs war unantastbar. Es war klar: Andere Lösungen brauchte das Land. 

Ein weiterer überzogener Anspruch an mein Leben mit Kind kam mir schließlich zu Hilfe. Ich stehe unglaublich auf Selbstkochen. Am liebsten vegetarisch, gesund und frisch. Ohne industriell hergestellte Zusatzstoffe. Ideal wäre noch bio und regional, ich wollte es aber nicht übertreiben. Das in einen Berufsalltag zu integrieren, der mehr als 20 Arbeitsstunden und auch sportliche Ertüchtigung umfasst, kam einer olympischen Disziplin gleich. 

Konnte die Mama nicht in die Küche, kam der Gemüseschäler und der Abfalleimer in das Esszimmer. Wusstet ihr, dass es genau ein von Kinderhand geschmiertes Honigbrot brauchte, um 800g Kartoffeln zu schälen? Die Transformation ebendieses Brotes in verdauungsfreundliche Einzelteile reichte aus, um eine große Zwiebel zu schälen und ohne Heulkrämpfe in kleine Würfel zu schneiden.

Was hektisch klingt, war eine Win-Win-Situation für meine Tochter und mich. Endlich biss ich nicht mehr mit den Zähnen in die Tischkante, weil sie genüsslich und ausgiebig frühstückte. Gleichzeitig naschte sie hier ein Möhrchen und da ein Paprikastückchen und lernte, sich für gesundes Kochen zu begeistern.

Die Rückkehr zu einem regelmäßigen Lauftraining erforderte etwas mehr Geduld. Bessergesagt erforderte es die selbstbestimmte Mobilität meines Kindes. Diese hielt Einzug mit ihrem Fahrrad. Schon zu Laufradzeiten fuhren wir gemeinsam in die Kita oder unternahmen lange Spaziergänge. An Joggen war jedoch nicht zu denken. Entweder stellte ich nach zwei Kilometern fest, dass mein Kind in der ersten Kurve nach vierblättrigen Kleeblättern suchte oder sie stürzte nach zwei Metern und bestand seltsamerweise darauf, dass die blutdurchtränkte Hose gewechselt und ein Marienkäferpflaster auf die Wunde geklebt wurde.

Das änderte sich nun. Allerdings bedeutete Joggen nicht, eine Stunde lange gleichmäßig die Berge rauf und runter zu rennen, ordentlich zu schwitzen und anschließend mit dem Gefühl nach Hause zu kommen, sich ordentlich ausgepowert zu haben. Es glich mehr einem Orientierungslauf. Sprint und Langdistanz wechselten sich ab, zwischendurch mussten zwei Trillionen Lagerfeuer angezündet werden und an den Kreuzungen gab es weitreichende Überlegungen, welcher Weg nun der Richtige sei.

Ich empfehle grundsätzlich in jedem Gepäck ausreichend Snacks, Heftpflaster und Wechselkleidung mitzuführen. Sowohl Strumpfhosen für das Kind (falls beim durch-die-Pfütze-fahren Wasser in die Schuh/Stiefel kommt) als auch eine dünne Jacke/Weste für die Mama (sonst besteht die Gefahr, sich bei den diversen kleinen Pausen zu unterkühlen) haben sich als hilfreich erwiesen.

Wahrscheinlich werde ich eines Tages einen bitterbösen Beitrag über die ewige Gleichzeitigkeit des Seins verfassen. Ich bin in Realität kein Freund von Multitasking, da es uns mehr Energie und Zeit kostet. Außerdem leidet die Qualität des Ergebnisses. Doch im Umgang mit den Kindern bin ich ein großer Befürworter von Zweigleisigkeit. Nicht zu joggen, nicht entspannungszubaden sowie minutenlang meinem Kind beim Essen zuzusehen, während ich längst fertig bin und schon Zähne putzen, kochen, telefonieren, ein Buch lesen könnte, treibt mich schier in den Wahnsinn. Ohne das Gefühl, mich wenigstens ein bisschen entspannen zu können, meinen Körper fit zu halten oder Zeit nicht sinnlos verstreichen zu lassen, baut sich in mir ein unendlicher innerer Druck auf, der paranoid-schizoides Verhalten auslöst. „Tiefenentspann‘ Dich, ne! Es ist alles eine Frage des Fließens. Komm in die Liebe!“, mag der sozialpädagogische Yogi anmerken. Darf er. Ist ja schließlich Meinungsfreiheit und so in diesem Land. „Arschtritt!“ werde ich da erwidern und mich auf ebenselbige berufen. Klappt bei verschiedenen Personengruppen in diesem Land auch wunderbar.

Unter den gegebenen Umständen ist gemeinsames Sporteln und Entspannen der größtmögliche Kompromiss zwischen den Bedürfnissen meiner Tochter und meinen eigenen. Wenn Knöpfchen auf ihrem Rad mal die Puste ausgeht oder wieder in die Melodie reinplappert, um nach einer Interpretation des Bildes auf dem Tablet zu verlangen (Warum sind die Wellen so weiß?), nehme ich mit meinem 65 Jahre alten Ich Kontakt auf. Gemeinsam lachen wir dann über die verrückte Zeit und kichern bis wir wehmütig sagen: „Das waren noch unbeschwerte Zeiten!“Und hoffen gleichzeitig aus tiefstem Herzen, dass meine Tochter keine posttraumatische Belastungsstörung beim Anblick von Möhren erleben wird.